Michael Kirsch, Zweiter Bürgermeister in Altrip, lag am 2. März 1925 mit verweinten Augen über der „Pfälzischen Post“ am Küchentisch. Sein großer Hoffnungsträger, Reichspräsident Friedrich Ebert, war am letzten Februartag in einem Berliner Krankenhaus an einem Blinddarmdurchbruch gestorben. Für den Altriper Sozialdemokraten stand fest: Zur Beerdigung in Heidelberg muss ich hin.
Kirsch, der noch nie in Heidelberg gewesen war, brach zwei Tage später auf. Vieles war zu bedenken. Würde es mit der Fähre klappen? Machen womöglich die Franzosen eine Verkehrssperre? Die Züge, so dachte er, werden wohl nicht alle pünktlich fahren. Von der Überfüllung gar nicht zu reden. Und so ging Kirsch zu Fuß, was nicht gerade gut für ihn war, denn seit einem Betriebsunfall in einer Altriper Ziegelei „knappte“ er. Mal fuhr Kirsch ein Stück des Weges mit der „Elektrischen“ (Tram), dann ging er Teilstrecken, weil er Probleme mit den Fahrplänen der Züge hatte oder weil einfach nichts fuhr.
Die Nacht bis zum Beerdigungstag am 5. März verbrachte Kirsch im Heidelberger Gewerkschaftshaus. Schon in aller Frühe stand der Altriper an der Rohrbacher Straße. Wer später kam, hatte ohnehin Pech, denn die Menschenmassen standen bereits dicht gedrängt. Von den Laternen waren die Gestelle abgenommen, und die Gasflammen schlugen aus von Tannen grün umschlungenen Kandelabern. Kirsch bewunderte das geschmückte Gewerkschaftshaus und war stolz auf die vielen Abordnungen, etwa des Reichsbanners „Schwarz-Rot-Gold“, dem er selbst angehörte. Die Glocken aller Heidelberger Kirchen läuteten, und ergriffen stand Kirsch mit entblößtem Haupt am Straßenrand, als der Sarg auf einem von vier vollkommen Schwarz verkleideten Pferden gezogenen Wagen an ihm vorbeifuhr. Es war ziemlich frisch und Kirsch fröstelte, sei es vor Kälte oder Erregung. Der Sozialdemokrat sah zwar berittene Polizei, aber keine Reichswehr, da Heidelberg in der neutralen Zone lag.
Zur Bestattungszeremonie auf dem Bergfriedhof am noch mit Schnee bedeckten Gaisberg konnte Kirsch nicht durchdringen. Erst am nächsten Tag stand er am Grab seines Vorbilds, das neben dem Grab von Eberts Mutter lag und an dem am Vortag ein 1200-köpfiger Heidelberger Männerchor gesungen hatte. Michael Kirsch besuchte noch die Altstadt, in deren Gassen die Reichsfarben mit den badischen Flaggen wetteiferten. Er besah sich Eberts Geburtshaus in der Pfaffengasse und im Kurpfälzischen Museum ein lebensnahes Porträt des Verstorbenen. Dann machte er sich auf den Heimweg, teils zu Fuß und teils mit der Bahn.
Völlig „abgerissen“ und mit kleinem Gepäck kam der Milchhändler Kirsch in Altrip an und berichtete wenige Tage später im „PfälzerHof“ vor dem Sozialdemokratischen Verein über seinen Heidelberger Aufenthalt. Er setzte an mit „Genossen, ich war dabei...“, dann versagte ihm die Stimme und die Tränen flossen. Gerne hätte Kirsch gesehen, dass der im selben Jahr eingeweihte Waldpark auf Eberts Namen getauft worden wäre, doch der Bürgermeister lehnte dies ab.
Aber 1927 schaffte es Kirsch, dass der seitherige Speyerer Platz den Namen des ersten Reichspräsidenten erhielt, und fast wäre im Februar 1933 die Errichtung eines Ebert-Denkmals gelungen. Doch dann kamen andere Zeiten. Als Kirsch 1946 im Alter von 74 Jahren starb, hatten seine Genossen zusammen mit den Kommunisten den einstigen Ebert-Platz, nach Horst-Wessel-Platz im Dritten Reich, zum Karl-Marx-Platz umgetauft.