Im Jahr 915 n. Chr. starb Regino v. Prüm aus Altrip -
Wecker historischen Gewissens und Selbstbewusstseins
Wer von Mannheim aus mit der Fähre über den Rhein setzt, um nach dem „Grünen Süden“ der Städte Ludwigshafen und Mannheim zu gelangen, und von da die „Blauen Adria", eine Reihe künstlicher Seen, aufsucht, kommt zunächst nach der Fischergemeinde Altrip, am linken Rheinufer gelegen. Erinnert schon der Name Altrip an ein langes geschichtliches Bestehen der Gemeinde - es ist das römische „alta ripa", das „hohe Ufer“ - so fällt besonders auf, dass hier eine Straße sich mit dem Namen „Regino“ verbindet und dass ein Gedenkstein auf dem Platz vor der evangelischen Kirche steht, der berichtet, dass in Altrip Regino, der Verfasser der Weltchronik, geboren wurde.
Das Regino-Denkmal in den 1930er JahrenSoAls Jahr seiner Geburt wird das Jahr 840 angenommen. Er scheint aus einer vornehmen fränkischen Familie zu stammen. Wie seine Werke beweisen, hat er eine weitreichende Bildung erfahren, deren Grundlagen in den Klosterschulen entweder in Altrip oder Prüm gelegt wurden. Schon früh wird er Glied des Konvents der Abtei Prüm und übernimmt als siebter der Äbte im Jahre 892 die Regierung des Klosters. Nur sieben Jahre währt seine Amtsperiode. Feinde zwingen ihn, im Jahre 899 seiner Amtswürde zu entsagen.
Erzbischof Radbod von Trier setzt ihn zum Abt des Klosters St. Martin in Trier ein, wo Regino Zeit und Ruhe findet, neben anderen Werken seine Weltchronik zu schreiben, die er im Jahre 907 vollendet und im Jahre 908 mit einer Widmung an den Bischof Adalbero von Augsburg übersendet. Bischof Adalbero zählt als Erzieher des seinerzeitigen Königs Ludwig zu den an Bildung und Einfluss erstrangigen Gestalten seiner Zeit. Im Jahre 915 stirbt Regino und findet in St. Maximin vor der Stadt seine Ruhestätte. Sein Grab wird 1581 aufgefunden. Der Grabstein bestätigt seine Geburt in Altrip.
Mit der Erhebung zur Abtswürde rückte Regino in die Reihe der Ersten der Großen des fränkischen Reiches auf. Denn Kloster Prüm, gelegen am Südhang der Eifel, zählt, da es eine karolingische Familienstiftung und mit Schenkungen und Freiheiten reich begabt ist, zu den reichsten und angesehensten Klöstern des gesamten Frankenreiches. Es ist reichsunmittelbar und mit Recht ausgestattet, den Abt aus seiner Mitte zu wählen. Es wurde Grablege des Königshauses der Pippiniden. Neben zahlreichen Privilegien besaß das Kloster auch das Recht, weitere kleinere Klöster, genannt Zellen, zu errichten. Ein solches Kloster befand sich in Altrip, und so ist es verständlich, dass der in Altrip geborene Regino als Angehöriger einer vornehmen Familie seine weitere Bildung in der angesehenen Klosterschule von Prüm erfährt.
Die exponierte Stellung des Abts von Prüm macht es aber auch unvermeidlich, dass Regino in das Spannungsfeld der Geschichte und der politischen Machtkämpfe gerät, was schließlich der Verlust der Abtswürde von Prüm am deutlichsten beweist.
Die Zeitverhältnisse sind wirr. Der Vertrag von Verdun im Jahre 843 bringt die Teilung des Reiches Karls des Großen in drei Teile unter dessen Enkel. Den Mittelteil erhält Lothar, der den Kaisertitel führt. Dem nach ihm benannten Lothar I. im Jahre 855 sich von der Herrschaft in das Kloster Prüm zurückzieht, teilt er sein Reich abermals unter seinen drei Söhnen, wobei Lothringen an seinen gleichnamigen Sohn fällt. Ostfranken, zunächst unter Ludwig dem Deutschen, wird gleichfalls nach dessen Tod im Jahre 876 unter seinen drei Söhnen geteilt. Spannungen und Kämpfe unter dem Nachfolger Karls des Großen und dessen Sohn Ludwigs des Frommen bleiben nicht aus, wozu sich die Kämpfe unter den Großen des Reiches hinzufügen. Nicht genug all dessen, wird das Reich von Einfällen der seeräuberischen Normannen, die mit ihren Schiffen auf den Flüssen weit in das Land einfahren, sowie der Ungarn heimgesucht. Beide ziehen raubend, mordend, brennend und sengend durch das Land. In den Jahren 882 und 892 wird das Kloster Prüm durch Plünderungen, Mord und Brand durch die Normannen in Mitleidenschaft gezogen.
Die im Jahre 888 in Mainz versammelten ostfränkischen Bischöfe klagen: „Wer vermöchte mit trockenen Augen die Leiden unseres Volkes und der Heiligen aufzählen? Sehet hin und betrachtet, was für herrliche und berühmte Bauwerke der Diener Gottes zerstört, verbrannt und gänzlich zu Grunde gerichtet sind … Jegliches Alter, beide Geschlechter durch Schwert und Feuer und jedwede Todesart hingerafft …“
Es heißt weiter, dass die Bischöfe ein anderes Übel bedrängt, um so schwerer und gefährlicher, je näher es sei: „Denn siehe, an unserer Seite wütet die Schar der Räuber und Abtrünnigen, welche die Armen und Demütigen in Christo unterdrücken und morden, ohne vor Gott Ehrfurcht zu hegen oder sich vor irgendeiner Person zu scheuen. Von ihnen nämlich würde, wenn auch die Wildheit der Heiden nicht hinzukäme, das Land in eine Einöde verwandelt werden ...“
Regino, der nach der Zerstörung seines Klosters im Jahre 892 im selben Jahr Abt wird, kann nicht in Ruhe das Wiederaufbauwerk beginnen. Auch er bekommt die Machtgier der Großen zu spuren. Die lothringischen Grafen Gerhard und Matfried verdrängen ihn schließlich zugunsten ihres Bruders Richar aus seinem Amt.
Die Weltgeschichte des Regino gliedert sich in zwei Bücher: „Über die Zeiten der göttlichen Menschwerdung“ (die Zeit von Christi Geburt bis zum Tode Karl Martells betreffend) sowie „Über die Taten der Frankenkönige“ (die Zeit vom Tode Karl Martells bis zum Jahre 906 betreffend). Das erste Buch sowie im zweiten Buch die Zeit bis Karl dem Großen sind Abschriften und Zusammenstellungen aus dritten Quellen, mit Ausnahme weniger eigener bedeutungsloser Zusätze. Regino bedient sich bei Abfassung seiner Chronik der annalistischen Methode, d.h. er berichtet die sich Jahr für Jahr begebenden Ereignisse, oft ohne die Zusammenhänge gebührend zu berücksichtigen. Der von ihm ausschließlich verfasste Teil beruht auf Überlieferung und eigenen Wahrnehmungen. Dabei bleibt es nicht aus, dass bei seinen Datierungen Ungenauigkeiten und Verschiebungen auftreten.
Die Chronik, die in lateinischer Sprache abgefasst ist, ist im Mittelalter sehr oft und gern gelesen worden, diente vielen anderen Chronisten als Vorlage und wurde nach der Erfindung der Buchdruckerkunst als eines der ersten frühmittelalterlichen Werke gedruckt.
Die Chronik hat Regino zur geschichtlichen Bedeutung verholfen und ihn dem Vergessenwerden entrissen; verdankt ihm doch die historische Wissenschaft wesentliche Nachrichten aus dem neunten und zehnten Jahrhundert. Es ist auch die erste Weltchronik, die auf deutschem Boden entstand. Regino scheint auch eine der ersten Gestalten zu sein, durch die sich im Frühmittelalter historisches Bewusstsein und stammesmäßiges Selbstbewusstsein offenbaren.
Als Motiv für das Verfassen seiner Weltchronik teilt er mit: „Denn unwürdig schien es mir, dass, während die Geschichtsschreiber der Hebräer, Griechen, Römer und der anderen Völker, die in ihren Tagen geschehenen Dinge durch die Schrift unserer Kunde übermittelt haben, über unsere Zeiten, wenn sie auch weit zurückstehen, ein so ununterbrochenes Schweigen herrscht, gleich als habe in unseren Tagen das menschliche Handeln aufgehört oder als ob man vielleicht nichts ausgeführt hätte, was aufbewahrt zu werden verdiente, oder, wenn denkwürdige Taten geschehen sind, als ob niemand tauglich erfunden worden sei, sie aufzuzeichnen, indem die Schriftkundigen sorglos dem Müßiggänge frönten. Aus diesem Grunde also habe ich nicht dulden wollen, dass unsere Väter und unsere Zeiten ganz und gar unberührt vorübergingen, sondern Sorge getragen, von vielem weniges aufzumerken …“
Selbst bei dem „Wenigen“ befleißigt sich Regino größtmöglicher Objektivität. Dies zeigt er und versucht es hier besonders deutlich zu machen, als er die Vorgänge um seine eigene Abdankung beschreibt. Er erwähnt hierbei lediglich den Sachverhalt und schreibt im Übrigen: „Wie aber gegen mich verfahren worden, habe ich deshalb an dieser Stelle aufzuzeichnen unterlassen, damit ich nicht etwa durch die Kränkungen gereizt, die Ursachen meiner Verfolgung mehr als die christliche Geduld gestattet übertrieben zu haben scheine und dass nicht eine Rede von umfänglichem Inhalt, welcher vielseitig und verwickelt ist, den Zuhörern Überdruss errege.“
Regino legt auch einen untrüglichen Blick für die historische Bedeutung einzelner Gestalten an den Tag. So findet die Gestalt des Papstes Nikolaus I. (858 - 867), der seine Vorgänger und Nachfolger auf Jahrhunderte hin an Persönlichkeit und geistiger Haltung bei weitem überragt, bereits bei Regino eine besondere Würdigung. So lässt sich sagen, dass die Chronik des Regino bei all ihren Mängeln für die damalige und auch die heutige Zeit eine beachtliche geistige Leistung darstellt, die sich vor allem durch das Bemühen um Sachlichkeit, Genauigkeit und geistige Selbstdisziplin auszeichnet. Dennoch verleugnet Regino seinen geistigen Standort nicht. Er ist Mönch. Er weiß sich zugehörig zur Weltkirche. Diese ist für ihn die Mittlerin nicht nur der geistlichen, sondern auch der geistigen Werte. Für die damalige Zeit und für die folgenden Jahrhunderte ist das auch zutreffend. Historische Katastrophen wertet er unter religiösem Aspekt und sucht diese verständlich zu machen. Der Sachlichkeit wird dadurch keinerlei Abbruch getan.
Regino. eine bedeutende geistige Gestalt Mitteleuropas, die historisches Gewissen und historisches Selbstbewusstsein geweckt hat und an die Tradition des Altertums anzuknüpfen sucht. Eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass die von Regino geschilderten Tatsachen für diesen erst jüngste Vergangenheit waren, eine Leistung, die erinnernd gewürdigt werden muss. An ihn konnten nachfolgende Chronisten anknüpfen und auf ihm aufbauen und mitteleuropäische Geschichte schreiben.